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Wie Kathi dem Leben zwischen Straße und Strafvollzug entkam

Artikel von Susanne Esch in der Kölnischen Rundschau

Obdachlosigkeit bei Frauen

Von Susanne Esch 01.12.2025, 11:00 Uhr

Mit 14 drogensüchtig, obdachlos und kriminell – nach Haftstrafen ist sie heute clean. Ihren Ausstieg schildert sie im Buch „Frauen zwischen Straße und Strafe.“

Kathis Drogenkarriere begann im Alter von 14 Jahren mit einer Heroin-Zigarette. Sie bekam sie von einer Freundin in der nahegelegenen Großstadt, wo sie häufiger unterwegs war, seitdem sie die Schule schwänzte. Der eigentliche Kipppunkt in ihrem Leben lag allerdings schon vorher: der Tod ihrer Großmutter. Kathis Mutter arbeitete in einem Kiosk und kam immer abends erst spät zurück, der Vater, der als Lkw-Fahrer arbeitete, war nur am Wochenende da. Und so wuchs Kathi bei der Großmutter auf. „Sie war wie meine Mama für mich. Sie war mein Ein und Alles“, erzählt Kathi, die eigentlich anders heißt, in einem Interview.

Es ist eines von acht Gesprächen, die die Kölnerin Christiane Niesel mit weiblichen Obdachlosen geführt und mit Petra Metzger in einem Buch veröffentlicht hat: „Frauen zwischen Straße und Strafe“ thematisiert schwierige Lebenssituationen, die sich bedingen: Obdachlosigkeit und Gefängnisstrafe. Wie schnell das eine zum anderen führt, wird in den Interviews deutlich.

Ein Schicksalsschlag und die folgende Sucht

Der Einstieg in die Abwärtsspirale ist oft ein Trauma oder ein Schicksalsschlag, wie bei Kathi. Sie verlor den Halt nach dem Verlust ihrer wichtigsten Bezugsperson. Das ständige Schulschwänzen bedingte mehrfache Schulwechsel. Die Endstation: eine Einrichtung für schwererziehbare Kinder. Kathi flüchtete sich in die Drogen, haute von zuhause ab und landete auf der Straße. Zum Heroin kam Kokain. Das Geld reichte nicht. So wurde Kathi kriminell.

Als sie im Alter von 14 Jahren das erste Mal in Jugendarrest kam, war das Strafregister bereits lang: Diebstähle, Drogenhandel, Drogeneinfuhr, Schwarzfahren, auch Körperverletzung. Sie hatte die Verkäuferinnen einer Parfümerie geschubst, wo sie vor Regen Schutz gesucht hatte. Die beiden hatten sie aufgefordert, den Laden zu verlassen. Sie habe randaliert, gibt Kathi im Interview zu, sie sei auf Entzug und aggressiv gewesen. Auf den ersten Jugendarrest folgten fünf weitere.

Neue Straftaten kamen hinzu. Die erste längere Haftstrafe verbüßt sie im Alter von 17 Jahren in der JVA Ossendorf. Gerade auf freiem Fuß – wurde sie wieder straffällig. „Da ich mit wenig Geld in die Obdachlosigkeit entlassen wurde, habe ich wieder Straftaten begangen“, schildert Kathi, „und wieder Drogen genommen.“ Erneut in Haft habe sie zwei Jahre gebettelt, in das Programm „Therapie statt Strafe“, aufgenommen zu werden und eine stationäre Drogentherapie in einer suchttherapeutischen Einrichtung zu erhalten.

Die Gefängnisleitung erlaubte aber nur die Verlegung in eine andere Gefängnisabteilung, in der Abhängige auf eine Therapie vorbereitet werden. Kathi weigerte sich: „In dieser Abteilung waren damals mehr Drogen unterwegs als in allen anderen“, erzählt sie. So erhielt sie eine ambulante Therapie, die Therapeuten wechselten ständig. Die Therapie scheiterte.

Mit Unterstützung gelang Kathi der Ausstieg

Kathi gelang am Ende dennoch der Ausstieg aus dem Pendeln zwischen Straße und Strafanstalt, nachdem sie in eine offene Gefängnisabteilung für Langzeitstrafen gewechselt war, wo sich die Rahmenbedingungen für sie verbesserten. Sie kam dort mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gut klar, nahm an Sport- und Fitnessprogrammen teil, machte eine Therapie, einen Entzug, ihren Hauptschulabschluss, mit jeweils einer Eins in Mathe und Deutsch. Kathi lernte dort auch ihren Freund kennen. Ihr Freund hatte Rückhalt bei seinem Chef. Der gab dem jungen Mann nach dem Gefängnis und Entzug wieder Arbeit, stellte auch Kathi als Reinigungskraft an und besorgte dem Paar eine Wohnung.

Mittlerweile ist Kathi 27 Jahre alt und clean. Ihr Gespräch mit Christiane Niesel im Buch gibt tiefe Einblicke in Lebens- und Haftbedingungen, die Menschen retten oder tiefer in die Sucht treiben können. Co-Autorin Petra Metzger hat eines oft erlebt: Häufig sind es einzelne Menschen, die den Unterschied machen. Sie beleuchtet im Buch in weiteren Texten, woran es oft hapert, die Hindernisse im Hilfesystem, sinnlose Haftaufenthalte und fehlende Resozialisierung. Die Autorinnen zeigen zudem auf, wie Betroffenen besser geholfen werden könnte.

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»Manche tarnen sich, um zu überleben«

Artikel der Stadtrevue zum Buch Frauen zwischen Straße und Strafe

Petra Metzger über wohnungslose Frauen zwischen Sucht, Haft und Überlebens­strategien

07.11.2025 Politik Interview: Anja Albert Ausgabe: 11/2025

Frau Metzger, Sie und Christiane Niesel haben ein Buch über wohnungslose Frauen geschrieben. Was war der Anstoß dafür?

Das Thema treibt uns schon lange um. Wir wollen den Zusammenhang von Hafterfahrung, Obdachlosigkeit und Armut anhand von persönlichen Schicksalen untersuchen und den Menschen Einblick in das Leben der Frauen geben, die diese Erfahrungen gemacht haben. Von Christiane Niesel sind die Gespräche mit den Frauen und von mir die Hintergrundinformationen. Vor Jahren habe ich den Verein »Stattreisen Köln« mitgegründet und durch Führungen und Veröffentlichungen einen ­geschulten Blick auf die Stadt 
und ihre Veränderungen. 

Gab es eine Begegnung, die Sie besonders berührt hat? 

Christiane Niesel hat besonders das Schicksal einer Frau berührt, die mit Drogenproblemen kämpft, aber keine Therapie beginnen kann, weil bestimmte Auflagen das verhindern. Viele der wohnungslosen Frauen haben einen Suchthintergrund, meist Heroin, manchmal Alkohol. Wohnungs­losigkeit und Sucht hängen eng zusammen. Einige begannen erst auf der Straße, Drogen zu nehmen, um das Leben dort zu er­tragen. Andere kennen Sucht­probleme schon von ihren Eltern. Mich macht besonders betroffen, wenn Obdachlose in meinem ­Umfeld von einem auf den anderen Tag nicht mehr da sind und man nicht weiß, was mit ihnen passiert ist. Für mich gehören sie zur Nach­barschaft. 

Warum sind wohnungslose Frauen oft weniger sichtbar als Männer? 

Es gibt Frauen, denen man gar nicht ansieht, dass sie auf der ­Straße leben — sie tarnen sich, um nicht als obdachlos erkannt zu werden. Manche erkennt man erst auf den dritten Blick als Frau, weil sie sich in Decken und ­Mäntel ­hüllen. Andere schlafen vorübergehend bei Bekannten oder lassen sich auf Abhängig­keiten von ­Männern ein, oft ­gegen Gegen­leistungen. 

Gibt es Gemeinsamkeiten in den Biografien?

Wenn, dann sind es die harten Brüche: Schicksalsschläge, die das Leben zerstören. Eine Frau erzählte, dass sie aus einem bürgerlichen Elternhaus kommt, mit 17 vergewaltigt wurde, sich ein halbes Jahr im Keller ­versteckte, die Schule schwänzte und dann durch falsche Freunde in die Drogenszene geriet.  

Immer mehr ältere Frauen landen in der Obdachlosigkeit — oft, weil die Rente nicht reicht

Wie haben die Frauen ihre Haft erlebt?

Meist als Strafe, sehr selten auch als Schutz. Viele Frauen sind wegen kleiner Ver­gehen in Haft, zu kurz, um eine Ausbildung oder Entgiftung zu machen. Sie stehen danach wieder ohne Ausweis oder Unterkunft da und landen wieder bei alten Bekannten oder auf der Straße. Es braucht dringend mehr Begleitung nach der Haft, einen echten Anschluss. Zwar gibt es Projekte, aber zu wenige Plätze. 

Was würde den Frauen die ­Resozialisierung erleichtern?

Wohnraum ist das Wichtigste! Ein eigenes Zimmer, Schutz vor Gewalt. Zudem helfen kleine ­Arbeitsmöglichkeiten wie für die Straßenzeitung Draußenseiter. Da geht es um den Verdienst, aber auch um Zugehörigkeit und Kontakt. Fast ebenso wichtig sind ­Menschen, die sagen: »Ich gebe dir eine Chance.« In Dortmund, Hannover und Düsseldorf gibt es gute Projekte, die Räume und Betreuung für Frauen schaffen. In Köln gibt es hoffentlich bald ähnliches: Die Frauenstiftung um die Frauenärztin Maria Beckermann arbeitet gerade an einem Konzept für eine Art Gesundheitshaus für Frauen. 

Was gibt den Frauen Hoffnung?

Ehrlich gesagt, wenig. Viele haben Kinder, die woanders leben, und sie leiden darunter, keine »gute Mutter« gewesen zu sein. Wenige schöpfen Kraft aus der Sehnsucht, ihre Kinder wiederzusehen. Viele zieht es noch mehr runter. 

Es heißt oft, es könne jeden ­treffen, jeder könne auf der Straße landen. Stimmt das?

Schon eine Krankheit kann einen aus der Bahn werfen. Immer mehr ältere Frauen landen in der Obdachlosigkeit, weil die Rente nicht reicht. Und das ist erst der Anfang: Die Armutswelle rollt, die Mieten explodieren. Unser Buch soll ­Einblicke geben in Lebenswelten, die viele nicht kennen und vielleicht vorschnell urteilen. Armut und Obdachlosigkeit sind nicht gottgegeben. Auf politischer ­Ebene ist eine stärkere Gemeinwohlorientierung nötig. Zwischenmenschlich können auch kleine Gesten — ein Gespräch, ein Brötchen, ein Medikament, das man bezahlt — Großes bewirken. 

»Frauen zwischen Straße und Strafe« von Petra Metzger und Christiane ­Niesel erscheint demnächst im ­Weismann-Verlag. Die Bethe-Stiftung unterstützt die Publikation und verdoppelt alle Spenden, die bis zum 12.12. ­eingehen, bis zu einer Höhe von 6.000 Euro. Sollten mehr Spenden ­ein­gehen als zur Kostendeckung ­not­wendig ist, kommen sie einem Obdach­losenprojekt zugute.

Sparkasse KölnBonn:
IBAN DE 56 3705 0198 1901 2611 96
»Obdachlose mit Zukunft e. V.«
Verwendungszweck: Verdopplungsaktion Bethe 

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Buch widmet sich Frauen zwischen Obdachlosigkeit und Gefängnis

Bildschirmfoto des Kölner Stadtanzeigers Website

Wohnungslosigkeit in Köln

Von Uli Kreikebaum 15.10.2025, 18:00 Uhr

Die Kölnerinnen Petra Metzger und Christiane Niesel haben mit Betroffenen gesprochen und Ursachen recherchiert. Das Projekt ist auf Spenden angewiesen.

Die Zahl der wohnungslosen Menschen in Köln steigt, fast die Hälfte von ihnen sind Frauen. Besonders schwierig ist es für ehemalige Häftlinge, eine Wohnung zu finden. Die Kölnerinnen Petra Metzger und Christiane Niesel nahmen diese Fakten zum Anlass, mit betroffenen Frauen zu sprechen und ein Buch darüber zu schreiben. „Frauen zwischen Straße und Strafe“ lautet der Titel. „Kaum jemand macht sich bewusst, was der Wohnungsmangel für Menschen bedeutet, die am Rand der Gesellschaft stehen“, sagt Metzger. Ehemalige Sträflinge hätten „kaum eine Chance“, je eine Wohnung zu finden. Relevant sei das Thema auch vor dem Hintergrund der öffentlichen Debatte über Verwahrlosung in der Kölner Innenstadt und im Besonderen die Situation am Neumarkt. „Viele der Frauen haben eine Suchtproblematik.“

Christiane Niesel hat sie getroffen, in Kalk, in Deutz, am Neumarkt, und mit ihnen gesprochen. Acht Frauen zwischen 23 und 45 Jahren schildern ihre Lebenssituation. Sie berichten, wie sie in die Obdachlosigkeit geraten sind, was das Gefängnis mit ihnen gemacht hat und worauf sie hoffen. Einige sind Mütter, einige haben lange ein bürgerliches Leben geführt, bevor sie in schwere Krisen geraten sind. Andere haben nie ein intaktes Zuhause kennengelernt, hatten alkoholkranke Väter und psychisch kranke Mütter.

Petra Metzger beleuchtet historische Hintergründe der Biografien wie Wohnungsnot, Hindernisse im Hilfesystem, fehlende Resozialisierung. Aus beiden Teilen der Recherche ergibt sich ein Bild, das verdeutlicht, warum es so schwer ist, aus dem Kreislauf von Haft und Wohnungslosigkeit auszubrechen. „Manche von ihnen suchen sich einen Partner, um sich auf der Straße sicherer zu fühlen. Andere meiden gerade Gesellschaft aus der Szene und kapseln sich ab. Das sind häufig ältere Frauen, die mit all ihrem Hab und Gut in einem Einkaufswagen unterwegs sind“, sagt Petra Metzger. Es gebe auch Frauen, denen man äußerlich ihre Obdachlosigkeit nicht ansehe. Das biete einen gewissen Schutz vor Gewalt. Vor allem Frauen würden auf der Straße oft Opfer sexueller Übergriffe.

Um als Buch veröffentlicht werden zu können, ist die Recherche auf Spenden angewiesen. Die Bethe-Stiftung von Roswitha und Erich Bethe unterstützt die Publikation und hat zugesagt, alle Spenden, die bis zum 12. Dezember eingehen, bis zu einer Höhe von 6000 Euro zu verdoppeln.

www.bethe-stiftung.org

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Wohnungsschlüssel statt Handschellen

Wohnungs- und obdachlose Menschen sind unter Strafgefangenen deutlich überrepräsentiert

Von Klaus Jünschke

Über Wohnungs- und Obdachlosigkeit wurde und wird relativ viel berichtet. Doch nur selten spielt dabei eine besonders betroffene Bevölkerungsgruppe eine Rolle: Strafgefangene. Im Zuge der Corona-Pandemie gab es dann Berichte, dass Justizvollzugsanstalten die Strafverbüßung vor allem von Gefangenen aussetzten, die zu relativ kurzen Ersatzfreiheitsstrafen verurteilt waren, weil sie ihre Geldbußen nicht bezahlen konnten. Der Platz wurde für Isolierstationen gebraucht.  In diesem Zusammenhang wurde auch thematisiert, dass rund  20% der Betroffenen wohnungslose Menschen waren. Für uns war das Anlass, sich den Komplex Haft und Wohnungslosigkeit etwas genauer anzugucken.

Das Statistische Bundesamt zählte am 31. März 2020 in der Strafhaft und in der Sicherungsverwahrung 46.054 Frauen und Männer. Darunter waren 6.187 ohne festen Wohnsitz bzw. ohne Angaben, das sind über 13%. Da 2020 die Gesamtzahl der Wohnungslosen auf 417.000 geschätzt wurde, liegt eine extreme Überrepräsentation der inhaftierten Wohnungslosen vor. Zusätzlich wurden in der Untersuchungshaft am Stichtag 11.633 Personen gezählt. Da bei ihnen nicht registriert wurde, ob sie eine Wohnung hatten oder wohnungslos waren, kann nur gemutmaßt werden, dass auch unter ihnen viele Wohnungslose waren. Bei all diesen Stichtagszahlen muss beachtet werden, dass über das Jahr gesehen viele Menschen für nur wenige Tage, Wochen oder Monate in Haft kommen. In der Bundesrepublik kommen jährlich über 100.000 Menschen in eine der 172 Justizvollzugsanstalten. Über die Hälfte davon kommen nur in Haft, um eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen. Ihre Haft dauert durchschnittlich 38 Tage. 

In Köln hat die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) aus Bremen eine repräsentative Befragung der Wohnungslosen durchgeführt. Dabei wurde bei 12% der Wohnungslosen ein Bezug zu Gefängnisaufenthalten festgestellt. Entweder ist die  Wohnung durch eine Inhaftierung verloren gegangen, oder jemand wurde durch die Wohnungslosigkeit straffällig und kam dadurch in Haft. 

Kaum Studien zu dem Thema

In der Regel befasst sich die Forschung zur Wohnungslosigkeit nicht mit dem Gefängnis. Gefangene gelten nicht als wohnungslos. Aber der Zusammenhang zwischen Haftaufenthalt und Wohnungslosigkeit wird nicht nur von der GISS mit ihrer Köln-Studie wahrgenommen. Es gibt bislang aber keine Studien, die analysieren, wie viele Inhaftierte bereits ohne Wohnung in Haft genommen werden, wie viele Gefangene im Verlauf ihres Haftaufenthalts ihre Wohnung verlieren und wie viele Frauen und Männer die Gefängnisse ohne Aussicht auf eine Wohnperspektive verlassen. Da kein Inhaftierter nach Verbüßung von üblicherweise zwei Dritteln seiner Strafe entlassen wird, wenn er keine Wohnung hat, ist auch nicht bekannt, wie viele eine vorzeitige Entlassung gar nicht erst beantragen und die Gesamtstrafe absitzen. 

Die heutigen Zellengefängnisse sind seit ihrer Entstehung vor 200 Jahren bis heute Armenhäuser geblieben. Seit der Strafrechtler Franz von Liszt vor über 100 Jahren erklärt hat, dass eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, ist dieser erkannte Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalisierung ein Thema ohne praktische Konsequenzen. 

Die extreme Überrepräsentation von Wohnungslosen und Obdachlosen in den Gefängnissen wurde in den Corona-Jahren aber noch nicht skandalisiert, weil andere Berichte die breite Öffentlichkeit mehr interessierten. Dabei handelte es sich um Artikel von und Interviews mit Neurologen, Psychologen, Psychiatern und Haptikforschern, wobei letztere sich mit der Bedeutung von Berührungen befassten. Durch all diese Wissenschaftler/innen fand eine bis dahin noch nie dagewesene Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die krankmachenden Folgen von Kontaktbeschränkungen statt. 

So stellte etwa Prof. Dr. Martin Grundwald von der Universität Leipzig fest: „Sicher ist, dass soziale Vereinsamung und fehlender zwischenmenschlicher Körperkontakt über einen längeren Zeitraum auf der psychischen und körperlichen Ebene zu relevanten Erkrankungen führen können.“ Und er ergänzt: „Insofern ist die körperliche Zurückhaltung aktuell gegenüber allem und jedem eine erhebliche Stresssituation, die nicht jeder gut verkraftet.“

Besonders deutlich wurde schließlich Prof. Dr. James Coan, Direktor des Virginia Affective Neuroscience Laboratory im Spiegel zitiert: „Wer einsam ist, wird öfter krank. Wunden heilen schlechter, das Immunsystem ist schwächer.“ Man sterbe früher, weil das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes und Depressionen steige, man werde eher dement: „Soziale Isolation tötet, das ist eine Tatsache.“ Nirgends wurde ein Bezug zum Gefängnis und der Unterbringung in Einzelzellen hergestellt. Das fanden wir skandalös. 

Als einer der Obdachlosen aus einem besetzten Haus in Köln zu einer Freiheitsstrafe wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurde, besuchten wir ihn in der JVA Rheinbach. Christiane Niesel, die noch nie in einem Knast war, schrieb ihre Eindrücke auf, und der Text wurde in der Kölner Straßenzeitung DRAUSSENSEITER veröffentlicht. So wurde uns bewusst, dass es über die Obdachlosen in Haft keine Texte gibt. 

Bei der Recherche zu diesem Thema fanden wir die Dissertation von Marion Müller: „Kriminalität, Kriminalisierung und Wohnungslosigkeit“, die sie 2006 vorgelegt hat. Sie kommt zu dem Schluss: „Die Heterogenität und Vielfältigkeit der Deutungs- und Handlungsweisen von wohnungslosen Personen im Umgang mit alltäglichen Extrembedingungen verweist ganz allgemein darauf, die Perspektive auf wohnungslose Menschen zurechtzurücken: Ein einseitiger, stigmatisierender Blickwinkel à la Wohnungslose trinken, betteln und klauen, ist nicht haltbar. Genauso wenig sollte man sich allerdings dazu verleiten lassen, ausschließlich einen mitleidigen Blickwinkel anzusetzen. Beide Sichtweisen versperren die Sicht auf wohnungslose Menschen als die individuellen Personen, die sie sind: weder Täter noch Opfer ihrer Situation, aber umrahmt von extremen Bedingungen, die ihren Handlungsentwürfen und -möglichkeiten entgegenstehen können.“ 

Knast und Straße als Drehtür

Der Rat der Stadt Köln hat am 2. Februar 2022 das Förderprogramm „Weiterentwicklung der Kölner Hilfen für Menschen im Kontext Obdachlosigkeit“ beschlossen.  Wir fühlten uns angesprochen und schrieben einen Antrag für unser Projekt „Ohne festen Wohnsitz in Haft“.

Von Oktober 2022 bis März 2023 leitete ich eine Erzählwerkstatt mit 12 Untersuchungsgefangenen  in der JVA Köln. In der JVA Siegburg konnte ich mit acht Gefangenen sprechen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßten. Das daraus entstandene Buch „Gefangen & Wohnungslos“ lässt auf über 400 Seiten Männer zu Wort kommen, die über ihre Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit vor der Haft, die Straffälligkeit, ihr Leben im Gefängnis und von ihren Wünschen und Hoffnungen für die Zeit nach der JVA erzählen. Christiane Niesel arbeitet mit Petra Metzger an einem weiteren Buch über wohnungslose Frauen mit Hafterfahrung, das demnächst auch im Kölner Weissmann Verlag erscheinen wird. 

Besonders erschütternd fand ich in den Gesprächen mit vier Langzeitobdachlosen, dass sie die Hälfte der vergangenen 20 – 30 Jahre immer wieder im Knast zubrachten. Ihre Lebensgeschichten stehen beispielhaft dafür, wie Polizei, Justiz und Strafvollzug soziale Konflikte zu Problemen der Überwachung und Kontrolle transformieren.

Seit 1845 kann man es besser wissen. Damals schrieben Friedrich Engels und Karl Marx in ihrem Buch „Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“ man müsse „nicht das Verbrechen am einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.“ 

Klaus Jünschke, Jahrgang 1947, ist in Köln im Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung aktiv. Er war wegen seiner Mitgliedschaft in der RAF (Rote Armee Fraktion) selbst 16 Jahre in Haft und hat anschließend zahlreiche Bücher und Artikel zur Situation von Gefangenen und zur Wohnungslosigkeit veröffentlicht.



MieterEcho 438 / Januar 2024

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Faces of St. Pauli im Hamburger Wochenblatt

Hamburger Wochenblatt Titelseite Ankündigung Ausstellung Andreas Muhme Faces of St. Paili

Urgesteine aus St. Pauli – Der Fotograf Andreas Muhme porträtiert Menschen aus St. Pauli und stellt im popstreet.shop aus.

Kiez-Urgesteine sind die meisten. Fußball-Legenden, Burlesque -Tänzerinnen, Künstler, Rotlicht-Größen, der Nachbar von nebenan. Vom Kellerkind bis zur Grande Dame. Alle Geschlechter, generationsübergreifend, 28 tolle Gesichter. Doppelportraits – halb verdeckt auf dem einen und klar erkennbar auf dem anderen Foto. Als Zeitdokument in schwarz-weiß portraitiert von Andreas Muhme.

Zur Ausstellungseröffnung im popstreet.shop sind mehrere der Porträtierten erschienen. „Pizzabanden-Chef“ Hodzy, der sich auf dem Foto Gummibänder übers Gesicht gezogen hat: „Für mich ist St. Pauli ein Auffangbecken. Hier kann man sein, wie man möchte, ohne schräg angeguckt zu werden.“ Popart und Pinup-Künstlerin Maiike Dirkx (Sexy Aufstand Reeperbahn): „Was für eine große Ehre, zu den Faces of St. Pauli zu gehören!“ Schauspielerin Lotti Strehlow (91) – Grande Dame von St. Pauli: „Erst wollte ich nicht mitmachen. Auf schwarz-weiß Fotos sieht man auch immer sehr hart aus. Aber jetzt bin ich froh, dass ich dabei bin.“

Blick hinter die Maske

Begonnen hat Muhme die Serie ein Jahr vor der Pandemie. Nicht alle der ausgestellten Fotos sind in dem Bildband „Faces of St. Pauli“ enthalten, viele hat er erst nach dem Erscheinen gemacht. Wie das Foto von FC St. Pauli-Kapitän Jackson Irvine, der mit einem Fußballschuh sein Gesicht halb verdeckt. Muhmes Lieblingsfoto? „Das ist Torben P. aus der Tortuga Bar: „Für die Aufnahme zog er plötzlich seine Zähne raus und lächelte mich mit drei Stumpen an.“

Begeistert von der Ausstellung zeigt sich auch die ehemalige TV-Lady Victoria Voncampe: „Das sind ganz tolle Arbeiten.“ Muhme: „Wenn du nach St. Pauli kommst, siehst du nur Neonlicht und Glamour. St. Pauli hat eine Maske auf. Deshalb haben die Menschen auf den Fotos auch eine Maske auf. Wenn du dich dann mit ihnen auseinandersetzt, nehmen sie sie irgendwann ab. Dann sieht man die Lebenslinien. Das ehrliche St. Pauli.“

Text: Dagmar Gehm

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„Iran ist immer ein Zufluchtsort für Juden gewesen“ – Mohsen Banaie im Interview mit NIW

Unser Autor Mohsen Banaie, iranischer Arzt und Sprachwissenschaftler hat mit Bart Schut und Ruben Gischler von NIW – Nieuw Israelitisch Weekblad ein Interview geführt. Banaie tritt gegen die heiligen Kühe seines Heimatlandes an. So auch jetzt, wo er dem jüdischen Staat in seinem Buch „Israel auf iranisch“ Tribut zollt. „In Israel haben sich mein deutsches und mein iranisches Ich getroffen“, sagt er.

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Einblicke in die Herzen der Menschen einer siebenbürgischen Stadt

Klausenburg/Cluj – eine literarische Nostalgie

Eine Rezension von Katharina Biegger

Fragend nimmt die Leserin das hübsch gemachte Buch mit dem rätselhaften, deutsch-rumänisch verschränkten Titel in die Hand: Was ist das? Welcher literarischen Gat­tung ist es zuzuordnen? Was will es von mir?

Das Buch ist ungewöhnlich. Kein (Heimat-)Roman, keine Lokalgeschichte, schon gar kein Reiseführer. Es ist ein Liebhaberprojekt, initiiert von dem Kölner Arzt Peter Rosenthal, der in Rumänien geboren wurde, in den 1970er-Jahren nach Deutschland kam und sich in Köln niedergelassen hat. Cluj ( dt. Klausenburg, ung. Kolozs­var) ist Partnerstadt Kölns, wo auch der Weissmann Ver­lag situiert ist, an dessen Gründung Peter Rosenthal be­teiligt war. Denn er ist nicht nur als Internist tätig. Gerne schreibt, publiziert, dichtet, übersetzt er. So hat er bei ei­ner Lesung in Klausenburg Mitglieder der rumänischen Schriftstellervereinigung kennengelernt, mit denen er dieses Buchprojekt entwickelt hat. Die Sammlung hand­le vom gemeinsamen europäischen Traum: ,,Es gibt ja kaum eine europäischere Stadt als Klausenburg“, meint Rosenthal, ,,die Römer waren schon da, die Germanen, die Sachsen und die Ungarn.“ Absicht des Buches sei es, ,,eine Europäisierung in umgekehrter Richtung“ zu be­treiben – Wissenstransfer nicht wie in früheren Epochen einsinnig von West nach Ost. Vielmehr wolle er „den Menschen im Westen einen Einblick in die Herzen der Menschen eines osteuropäischen Landes, in diesem Fall Rumänien, geben“ (S. 13).

Knapp zwanzig einzelne Beiträge sind in dem Band enthalten: kleine Dichtungen, Beobachtungen und Im­pressionen, die mehr oder weniger explizit zu der Stadt im Nordwesten Rumäniens in Beziehung stehen. Alle sind sie konsequent jeweils in Deutsch und Rumänisch abgedruckt ( einmal auch in drei Versionen, da das Un­garische nicht ganz vergessen werden soll); übersetzt hat – auf zuweilen recht eigenwillige, interessante Weise – der Initiator und Herausgeber Rosenthal, der auch einen Rahmen aus Einleitung und Nachwort beigegeben hat, worin er bekennt, er selbst sei mit Klausenburg eigent­lich gar nicht besonders vertraut. Die 15 zumeist rumäni­schen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Buch bei­getragen haben, sind oft aus den umliegenden Dörfern in das Zentrum der Region gekommen, wenn sie nicht schon geborene Klausenburger sind; viele haben Schu­le und Studium dort absolviert, sind danach vielleicht weitergezogen nach Bukarest oder nach Beer Sheva – oder sie sind für immer hängen geblieben, wie etwa Irina Petra: ,,Ich weiß nicht, wann ich mich in Cluj verliebt habe, aber eines ist sicher, ich gehöre zu Jenen, die es nie verlassen werden.“ Unter den jeweils höchstens fünf Sei­ten umfassenden Beiträgen findet sich Nachdenkliches, Persönliches, auch Kurioses, Ironisches, Verträumtes. In einem meiner Lieblingsstücke, karg und absurd wie die Zeiten vor 1989, geht es um das Rezept eines Fisch­gerichtes – da der Fisch jedoch fehlt, bleibt es bei der Beilage, also Kartoffeln mit Salz (Autor Victor Tarinä). Einer Reisereportage am nächsten kommt das Portrait des Stadtteils Märä?ti durch Markus Bauer. Besonders stimmungsvoll, ja philosophisch ist der Beitrag von Ion Murean: über die Lichter, die in Siebenbürgen zu Aller­seelen (,,Luminatia“) auf die Gräber der Toten getragen werden.

Ein paar leicht zu eliminierende kleine ( oft Tipp- oder Druck-) Fehler hätte ein professionelleres Lektorat ver­meiden können. Gewünscht hätte ich mir auch, dass das Entstehungsjahr der abgedruckten Stücke vermerkt wor­den wäre, wo es sich (wie in einigen Fällen kenntlich) nicht um Originalbeiträge für diese Publikation handelt. Weiter hätte mir gefallen, wenn die beigegebenen, atmo­sphärischen schwarz-weiß Fotos Klausenburger Örtlich­keiten zeigten, die in dem einen oder anderen Beitrag explizit genannt und beschrieben werden (z.B. die Do­nath-Straße oder eben Märäti). Aber das wäre der Gat­tung „Reiseführer“ vielleicht schon zu nahe gekommen.

Die Beschäftigung mit diesem sympathischen Buch hat jedenfalls meine Lust geweckt, Klausenburg mit sei­nem „merkwürdigen Lokalpatriotismus des Fernwehs“ einmal wieder zu besuchen!

Diese Rezension ist erschienen in „Deutsch-Rumänische Hefte – Caiete Germano-Romane“, Jahrgang XXVI • Heft 1 • Sommer 2023

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Rezension der Lesung mit Mohsen Banaie und seinem Buch „Israel auf iranisch“ (Moderation Christoph Danne)

Kölnische Rundschau Kultur Artikel von Rolf-Rüdiger Hamacher über Mohsen Banaies Buch Israel auf iranisch

Kölnische Rundschau / Kultur / 30.03.2023 / schreibt Rolf Rüdiger Hamacher über das Buch „Israel auf iranisch“ von Mohsen Banaie: „In „Israel auf iranisch“ erzählt der Kölner Autor Mohsen Banaie von einer ungewöhnlichen Reise“

Ein Buch, wie es aktueller kaum sein kann: Im Iran wüten die Revolutionsgarden gegen die eigene Bevölkerung, in Israel versucht gerade eine rechtsextreme Regierung die Demokratie auszuhöhlen. Beide Länder sind in inniger Feindschaft verbunden. Dennoch möchte Mohsen Banaie eine Brücke bauen zwischen den beiden Ländern, die unterschiedlicher nicht sein können – und sich doch so ähnlich sind.

„Eine Arbeit zur Völkerverständigung“, nennt der 1965 in Teheran geborene Autor sein Buch „Israel auf iranisch“, das er jetzt mit Christoph Danne im Literaturhaus vorstellte. An dessen Beginn steht eine lange „Reise“, die mit der islamischen Revolution 1979 beginnt, während der er sich einer oppositionellen Gruppierung anschloss. 1985 flüchtete er über die Türkei und die DDR in die Bundesrepublik – immer den Ratschlag seines Vaters im Kopf: „Versuche von den Deutschen zu lernen, für was sie in aller Welt berühmt sind: ihre Pünktlichkeit und Ordentlichkeit!“

Banaie studierte in Mainz Medizin, schrieb sich nebenbei im Fach „Vergleichende Sprachwissenschaften“ ein und hatte in der Begegnung mit dem jüdischen Professor Josef Elfenbein sein Schlüsselerlebnis: „Ich fing langsam an zu begreifen, dass nicht die Menschen selbst, sondern die Worte den Lauf der Geschichte bestimmten. Das Wort war die Macht. Wie es schon in der christlichen Bibel steht: Am Anfang war das Wort!“

Unter dem Pseudonym Mazdak Bamdadan veröffentlichte Mohsen Banaie seit Anfang der 2000-Jahre mehr als 250 Artikel in persischer Sprache zu sozialen, politischen, religionskritischen und historischen Themen:„Besonders viel Aufsehen erregte 2010 meine harsche Kritik an der israelischen Palästinapolitik, in der ich das Vorgehen des Staates mit Apartheid verglichen hatte.“

Schon damals reifte Banaies Entschluss, mit seiner Frau Sahar nach Israel zu reisen, „den wir dann aber erst 2018 umsetzten, mit der bangen Frage im Hinterkopf, wie wir als deutsche Staatsbürger mit dem Pass-Eintrag Geburtsort Teheran empfangen würden“. Und tatsächlich waren die ersten Eindrücke ernüchternd. „Als Deutsche wurde uns vor die Füße gespuckt, als Iraner wurden wir willkommen geheißen.“

„Habt ihr denn Angst gehabt, euch in Jerusalem zu bewegen?“ will Danne wissen. „Vielleicht waren die 14 Tage ja auch zu kurz, und wir haben manche gefährliche Situation nicht erkannt“, erinnert sich Banaie, um dann doch eine skurrile Situation zu erzählen, in der er seit seiner Flucht aus dem Iran zum ersten Mal wieder Todesangst gehabt habe: „Wir bleiben mit unserem Leihwagen in einer Prozession ultra-orthodoxer Juden stecken, und die Situation schaukelte sich hoch, bis sie erkannten, dass wir Gois waren, die, im Gegensatz zu ihnen, am Sabbat Autofahren dürfen.“

Zum Schluss der interessanten Einsichten in das Leben eines Wanderers zwischen mehreren Kulturen will Danne noch wissen, ob Banaie denn manchmal so etwas wie Heimweh empfinde: „Fühlen sie sich in ihrer Wahlheimat Deutschland wohl?“Dessen Antwort:„Offensichtlich, meine Frau nennt mich immer ,Friedrich Wilhelm’ – deutscher geht’s wohl nicht!“

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Cluj, die europäischste Stadt

Hans-Willi Hermanns schreibt in der Kölner Rundschau über das Buch „Cluj – Der Traum ist unser geheimes Zuhause / Klausenburg – Visul e casa noastră secretă“:


Cluj, die europäischste Stadt

Peter Rosenthal gibt Gedichtband über Kölns Partnerstadt in Rumänien heraus

Der Leser begegnet einem Engel, der Lippenstifte isst, jungen Leuten, die das das Sowjetregime mithilfe der Beatles und der Stones stürzen wollen. Er schaut ins Cafe Croco, wo die Bohèmiens ihren Kaffee trinken, er liest die Legende vom Hirten, der einst die Stadt vor der türkischen Besatzung rettete, versucht nachzuvollziehen, wie eine Pizza mit Gurken schmeckt oder wie man eine Skulptur aus Luft baut.
Und dann ist da noch Irina Petraș’ vergleichsweise sachliche Schilderung des Kulturlebens von Cluj, mit seinen Konzerten in der Philharmonie, den Theater- und Opernaufführungen, den Verlagen und Vorlesungen. Cluj? Nie gehört? Kein Wunder, der Name ist in Rumänien gebräuchlich, bei uns ist die Stadt nicht zuletzt dank des immer noch bemerkbaren Anteils von Siebenbürger Sachsen an der Gesamtbevölkerung eher als Klausenburg bekannt.

Unbekannte Stadt

Den meisten werden beide Namen nicht viel sagen, und das, obwohl Klausenburg eine der Partnerstädte Kölns ist. „Für die meisten hier ist Peking natürlich wesentlich interessanter“, kommentiert Peter Rosenthal lachend die Wissenslücken seiner Mitkölner.
Rosenthal ist Mitbegründer des Kölner Weissmann Verlags und hat dort unlängst als Herausgeber einen Band veröffentlicht, der sogar beide Namen auf dem Einband trägt: „Cluj – Der Traum ist unser geheimes Zuhause. Klausenburg – Visul e casa noastră secretă“. Versammelt sind darin Kurztexte oder Gedichte von 18 meist rumänischen Autoren zu den unterschiedlichsten Themen rund um die Stadt Klausenburg, auch stilistisch ist die Bandbreite enorm.
Alle Texte sind in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung abgedruckt, die Peter Rosenthal selbst besorgt hat. Denn er verbrachte seine Kindheit in Rumänien und kam mit 13 Jahren nach Köln, wo er bis heute mit seiner Familie lebt und als Internist arbeitet.

„Wer Klausenburg malerisch findet, findet auch Köln malerisch“. „Und wer Köln malerisch findet, kann nicht malen.“

Peter Rosenthal

Mit Klausenburg verbindet den Herausgeber so viel allerdings nicht, er ist in Arad nahe der ungarischen Grenze aufgewachsen. Auch hat er Klausenburg nicht gewählt, weil es eine besonders malerische Stadt wäre: „Wer Klausenburg malerisch findet, findet auch Köln malerisch“, sagt er verschmitzt. „Und wer Köln malerisch findet, kann nicht malen.“ Es war eher der Zufall, der zu dem Buchprojekt führte: „Meine erste Buchveröffentlichung,„Entlang der Venloer Straße“, ist auch ins Rumänische übersetzt worden, deshalb war ich zu einer Lesung nach Klausenburg eingeladen.“ Als Mitglied des PEN-Zentrums für deutschsprachige Autoren im Ausland lernte Rosenthal dort durch die Vermittlung von Irina Petras Kollegen der rumänischen Schriftstellervereinigung Klausenburg kennen, die einen gemeinsamen Band über ihre Stadt vor allem als Unterstützung der Idee eines geeinten Europas befürworteten. „Es gibt ja kaum eine europäischere Stadt als Klausenburg“, sagt Rosenthal,„die Römer waren schon da, die Germanen, die Sachsen und die Ungarn.“

Klausenburg sei kein Einzelfall, dennoch habe sich das westliche Europa bislang kaum die Mühe gemacht, in einen ernsthaften politischen oder kulturellen Dialog mit den osteuropäischen EU-Mitgliedsländern einzutreten. Daran ändere auch der Krieg in der Ukraine nichts, die Probleme Osteuropas würden trotz der großen Hilfsbereitschaft wohl vor allem als Bedrohung für den Wohlstand in den westlichen Ländern gesehen. „Dabei gibt es in Osteuropa so viel Potenzial“, sagt Rosenthal und schwärmt von der konsequenten Bekämpfung der Korruption in Rumänien, von der lebendigen Kulturszene und den hervorragenden Universitäten. Dennoch halte sich aufgrund der Armutsmigranten und Saisonarbeiter hierzulande das Bild eines zurückgebliebenen Landes. „Dass es dort noch kein nennenswertes Unternehmertum gibt, hat mit dem Totalitarismus der Sowjetzeit zu tun. Der hat vieles zerstört. Totalitarismus muss man erlebt haben, das ist ekelhaft, wie Ischias.“ Aber man könne sich doch selbst ein Bild machen: „Die Flugverbindungen nach Klausenburg sind sehr gut, dort kann man ein cooles Wochenende verbringen.“

Peter Rosenthal: Cluj – Der Traum ist unser geheimes Zuhause. Klausenburg – Visul e casa noastră secretă. Weissmann Verlag, 144 Seiten, 15
Euro.

Lesung in Köln: Donnerstag, 25.8., 20 Uhr, in den Balloni Hallen, Ehrenfeldgürtel 88-94. Eintritt frei.

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Von Eve Champagne bis Günter Zint – markante Kiezgesichter (Hamburger Abendblatt)

Foto: Andreas Muhme

https://www.abendblatt.de/kultur-live/article236145479/faces-of-st-pauli-bildband-eve-champagne-bis-guenter-zint-jones-kalle-schwensen-markante-kiez-gesichter.html

Das Hamburger Abendblatt schreibt über das neue Fotobuch von Andreas Muhme „Faces of St. Pauli“:

Andreas Muhmes neuer Fotobildband „Faces of St. Pauli“ porträtiert 120 Persönlichkeiten gleich doppelt.

Hamburg.  St. Pauli hat viele Gesichter. Die Rede ist hier weniger vom einst als „magisch“ besungenen FC – obwohl dieser in Andreas Muhmes Buch auch Erwähnung findet. In seinem Werk „Faces of St. Pauli“ geht es primär um den Stadtteil und die Menschen, die ihn prägen und von ihm geprägt wurden. 2019 hatte Muhme begonnen, Frauen und Männer, Prominente und weniger Prominente seiner „Herzensheimat“ zu porträtieren; nach zwei Ausstellungen sieht er seinen Fotobildband als nächsten „folgerichtigen Schritt“.

In seinem Buch überwindet der Hamburger Fotograf auf 252 Seiten bewusst Milieugrenzen. Allen der fürs Buch berücksichtigten 120 Persönlichkeiten gibt er jeweils zwei Seiten Raum für ein Doppelporträt. Die Fotos sind schwarz-weiß und mit Ringblitz aufgenommen. Sie kennen keine Weichzeichner und keine Makulatur, weil auch der Stadtteil ohne auskomme, meint Muhme. Der Fotograf zeigt die Ausgewählten verdeckt und unverdeckt, liefert jeweils eine Erklärung und hat den Fotos persönliche Statements beigefügt, die für sich sprechen.

„Faces of St. Pauli“: Bildband mit jungen und alten Kiez-Größen

„Lieber queer leben auf St. Pauli, als quer denken unter Idioten“, sagt etwa Sänger, Autor, und Theaterregisseur Schorsch Kamerun, der sich mit Stofftier als Zweitbild hat ablichten lassen. Auch ein visuelles Statement wider Kommerz, Massentourismus und Einheitsgastronomie. Dennoch weiß auch Burlesque-Rockstar Eve Champagne, die sich im zweiten Bild hinter einer venezianischen Maske verbirgt: „St. Pauli ist Großstadt-Serengeti für viele Paradiesvögel.“ Seine Pilotenbrille gegen die Maske tauscht sogar die frühere Kiez-Größe „Kalle“ Schwensen, und wenn der Club-Betreiber konstatiert „St. Pauli ist Hamburgs Herzschlag“ lässt sich kaum widersprechen.

Kiez-Dauerpräsente wie Olivia Jones und Corny Littmann fehlen in „Faces of St. Pauli“ ebenso wenig, jedoch hat Muhme auch junge und alteingesessene Kneipenwirte, Sozialarbeiter und Gestrandete, Alt- und Neo-Punks im Auge behalten. Sie stehen für Diversität, Stolz und Sturheit, aber auch die Verwundbarkeit St. Paulis.

Andreas Muhme möchte zeigen, wie hoch der Preis wäre, wenn Hamburg den Kiez, so wie er ist, verlöre. Der im Buch ebenfalls doppelt verewigte Günter Zint, Gründer des St. Pauli Museums und fotografisches Kiez-Gedächtnis, macht ihm mit seinem Statement ein großes Kompliment: „Lieber von Muhme fotografiert, als vom Leben gezeichnet.“

Das Buch kann in jeder Buchhandlung oder sofort hier im Onlineshop erworben werden.