Wohnungs- und obdachlose Menschen sind unter Strafgefangenen deutlich überrepräsentiert
Von Klaus Jünschke
Über Wohnungs- und Obdachlosigkeit wurde und wird relativ viel berichtet. Doch nur selten spielt dabei eine besonders betroffene Bevölkerungsgruppe eine Rolle: Strafgefangene. Im Zuge der Corona-Pandemie gab es dann Berichte, dass Justizvollzugsanstalten die Strafverbüßung vor allem von Gefangenen aussetzten, die zu relativ kurzen Ersatzfreiheitsstrafen verurteilt waren, weil sie ihre Geldbußen nicht bezahlen konnten. Der Platz wurde für Isolierstationen gebraucht. In diesem Zusammenhang wurde auch thematisiert, dass rund 20% der Betroffenen wohnungslose Menschen waren. Für uns war das Anlass, sich den Komplex Haft und Wohnungslosigkeit etwas genauer anzugucken.
Das Statistische Bundesamt zählte am 31. März 2020 in der Strafhaft und in der Sicherungsverwahrung 46.054 Frauen und Männer. Darunter waren 6.187 ohne festen Wohnsitz bzw. ohne Angaben, das sind über 13%. Da 2020 die Gesamtzahl der Wohnungslosen auf 417.000 geschätzt wurde, liegt eine extreme Überrepräsentation der inhaftierten Wohnungslosen vor. Zusätzlich wurden in der Untersuchungshaft am Stichtag 11.633 Personen gezählt. Da bei ihnen nicht registriert wurde, ob sie eine Wohnung hatten oder wohnungslos waren, kann nur gemutmaßt werden, dass auch unter ihnen viele Wohnungslose waren. Bei all diesen Stichtagszahlen muss beachtet werden, dass über das Jahr gesehen viele Menschen für nur wenige Tage, Wochen oder Monate in Haft kommen. In der Bundesrepublik kommen jährlich über 100.000 Menschen in eine der 172 Justizvollzugsanstalten. Über die Hälfte davon kommen nur in Haft, um eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen. Ihre Haft dauert durchschnittlich 38 Tage.
In Köln hat die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) aus Bremen eine repräsentative Befragung der Wohnungslosen durchgeführt. Dabei wurde bei 12% der Wohnungslosen ein Bezug zu Gefängnisaufenthalten festgestellt. Entweder ist die Wohnung durch eine Inhaftierung verloren gegangen, oder jemand wurde durch die Wohnungslosigkeit straffällig und kam dadurch in Haft.
Kaum Studien zu dem Thema
In der Regel befasst sich die Forschung zur Wohnungslosigkeit nicht mit dem Gefängnis. Gefangene gelten nicht als wohnungslos. Aber der Zusammenhang zwischen Haftaufenthalt und Wohnungslosigkeit wird nicht nur von der GISS mit ihrer Köln-Studie wahrgenommen. Es gibt bislang aber keine Studien, die analysieren, wie viele Inhaftierte bereits ohne Wohnung in Haft genommen werden, wie viele Gefangene im Verlauf ihres Haftaufenthalts ihre Wohnung verlieren und wie viele Frauen und Männer die Gefängnisse ohne Aussicht auf eine Wohnperspektive verlassen. Da kein Inhaftierter nach Verbüßung von üblicherweise zwei Dritteln seiner Strafe entlassen wird, wenn er keine Wohnung hat, ist auch nicht bekannt, wie viele eine vorzeitige Entlassung gar nicht erst beantragen und die Gesamtstrafe absitzen.
Die heutigen Zellengefängnisse sind seit ihrer Entstehung vor 200 Jahren bis heute Armenhäuser geblieben. Seit der Strafrechtler Franz von Liszt vor über 100 Jahren erklärt hat, dass eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, ist dieser erkannte Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalisierung ein Thema ohne praktische Konsequenzen.
Die extreme Überrepräsentation von Wohnungslosen und Obdachlosen in den Gefängnissen wurde in den Corona-Jahren aber noch nicht skandalisiert, weil andere Berichte die breite Öffentlichkeit mehr interessierten. Dabei handelte es sich um Artikel von und Interviews mit Neurologen, Psychologen, Psychiatern und Haptikforschern, wobei letztere sich mit der Bedeutung von Berührungen befassten. Durch all diese Wissenschaftler/innen fand eine bis dahin noch nie dagewesene Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die krankmachenden Folgen von Kontaktbeschränkungen statt.
So stellte etwa Prof. Dr. Martin Grundwald von der Universität Leipzig fest: „Sicher ist, dass soziale Vereinsamung und fehlender zwischenmenschlicher Körperkontakt über einen längeren Zeitraum auf der psychischen und körperlichen Ebene zu relevanten Erkrankungen führen können.“ Und er ergänzt: „Insofern ist die körperliche Zurückhaltung aktuell gegenüber allem und jedem eine erhebliche Stresssituation, die nicht jeder gut verkraftet.“
Besonders deutlich wurde schließlich Prof. Dr. James Coan, Direktor des Virginia Affective Neuroscience Laboratory im Spiegel zitiert: „Wer einsam ist, wird öfter krank. Wunden heilen schlechter, das Immunsystem ist schwächer.“ Man sterbe früher, weil das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes und Depressionen steige, man werde eher dement: „Soziale Isolation tötet, das ist eine Tatsache.“ Nirgends wurde ein Bezug zum Gefängnis und der Unterbringung in Einzelzellen hergestellt. Das fanden wir skandalös.
Als einer der Obdachlosen aus einem besetzten Haus in Köln zu einer Freiheitsstrafe wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurde, besuchten wir ihn in der JVA Rheinbach. Christiane Niesel, die noch nie in einem Knast war, schrieb ihre Eindrücke auf, und der Text wurde in der Kölner Straßenzeitung DRAUSSENSEITER veröffentlicht. So wurde uns bewusst, dass es über die Obdachlosen in Haft keine Texte gibt.
Bei der Recherche zu diesem Thema fanden wir die Dissertation von Marion Müller: „Kriminalität, Kriminalisierung und Wohnungslosigkeit“, die sie 2006 vorgelegt hat. Sie kommt zu dem Schluss: „Die Heterogenität und Vielfältigkeit der Deutungs- und Handlungsweisen von wohnungslosen Personen im Umgang mit alltäglichen Extrembedingungen verweist ganz allgemein darauf, die Perspektive auf wohnungslose Menschen zurechtzurücken: Ein einseitiger, stigmatisierender Blickwinkel à la Wohnungslose trinken, betteln und klauen, ist nicht haltbar. Genauso wenig sollte man sich allerdings dazu verleiten lassen, ausschließlich einen mitleidigen Blickwinkel anzusetzen. Beide Sichtweisen versperren die Sicht auf wohnungslose Menschen als die individuellen Personen, die sie sind: weder Täter noch Opfer ihrer Situation, aber umrahmt von extremen Bedingungen, die ihren Handlungsentwürfen und -möglichkeiten entgegenstehen können.“
Knast und Straße als Drehtür
Der Rat der Stadt Köln hat am 2. Februar 2022 das Förderprogramm „Weiterentwicklung der Kölner Hilfen für Menschen im Kontext Obdachlosigkeit“ beschlossen. Wir fühlten uns angesprochen und schrieben einen Antrag für unser Projekt „Ohne festen Wohnsitz in Haft“.
Von Oktober 2022 bis März 2023 leitete ich eine Erzählwerkstatt mit 12 Untersuchungsgefangenen in der JVA Köln. In der JVA Siegburg konnte ich mit acht Gefangenen sprechen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßten. Das daraus entstandene Buch „Gefangen & Wohnungslos“ lässt auf über 400 Seiten Männer zu Wort kommen, die über ihre Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit vor der Haft, die Straffälligkeit, ihr Leben im Gefängnis und von ihren Wünschen und Hoffnungen für die Zeit nach der JVA erzählen. Christiane Niesel arbeitet mit Petra Metzger an einem weiteren Buch über wohnungslose Frauen mit Hafterfahrung, das demnächst auch im Kölner Weissmann Verlag erscheinen wird.
Besonders erschütternd fand ich in den Gesprächen mit vier Langzeitobdachlosen, dass sie die Hälfte der vergangenen 20 – 30 Jahre immer wieder im Knast zubrachten. Ihre Lebensgeschichten stehen beispielhaft dafür, wie Polizei, Justiz und Strafvollzug soziale Konflikte zu Problemen der Überwachung und Kontrolle transformieren.
Seit 1845 kann man es besser wissen. Damals schrieben Friedrich Engels und Karl Marx in ihrem Buch „Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“ man müsse „nicht das Verbrechen am einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.“
Klaus Jünschke, Jahrgang 1947, ist in Köln im Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung aktiv. Er war wegen seiner Mitgliedschaft in der RAF (Rote Armee Fraktion) selbst 16 Jahre in Haft und hat anschließend zahlreiche Bücher und Artikel zur Situation von Gefangenen und zur Wohnungslosigkeit veröffentlicht.
MieterEcho 438 / Januar 2024