Veröffentlicht am

Wohnungsschlüssel statt Handschellen

Wohnungs- und obdachlose Menschen sind unter Strafgefangenen deutlich überrepräsentiert

Von Klaus Jünschke

Über Wohnungs- und Obdachlosigkeit wurde und wird relativ viel berichtet. Doch nur selten spielt dabei eine besonders betroffene Bevölkerungsgruppe eine Rolle: Strafgefangene. Im Zuge der Corona-Pandemie gab es dann Berichte, dass Justizvollzugsanstalten die Strafverbüßung vor allem von Gefangenen aussetzten, die zu relativ kurzen Ersatzfreiheitsstrafen verurteilt waren, weil sie ihre Geldbußen nicht bezahlen konnten. Der Platz wurde für Isolierstationen gebraucht.  In diesem Zusammenhang wurde auch thematisiert, dass rund  20% der Betroffenen wohnungslose Menschen waren. Für uns war das Anlass, sich den Komplex Haft und Wohnungslosigkeit etwas genauer anzugucken.

Das Statistische Bundesamt zählte am 31. März 2020 in der Strafhaft und in der Sicherungsverwahrung 46.054 Frauen und Männer. Darunter waren 6.187 ohne festen Wohnsitz bzw. ohne Angaben, das sind über 13%. Da 2020 die Gesamtzahl der Wohnungslosen auf 417.000 geschätzt wurde, liegt eine extreme Überrepräsentation der inhaftierten Wohnungslosen vor. Zusätzlich wurden in der Untersuchungshaft am Stichtag 11.633 Personen gezählt. Da bei ihnen nicht registriert wurde, ob sie eine Wohnung hatten oder wohnungslos waren, kann nur gemutmaßt werden, dass auch unter ihnen viele Wohnungslose waren. Bei all diesen Stichtagszahlen muss beachtet werden, dass über das Jahr gesehen viele Menschen für nur wenige Tage, Wochen oder Monate in Haft kommen. In der Bundesrepublik kommen jährlich über 100.000 Menschen in eine der 172 Justizvollzugsanstalten. Über die Hälfte davon kommen nur in Haft, um eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen. Ihre Haft dauert durchschnittlich 38 Tage. 

In Köln hat die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) aus Bremen eine repräsentative Befragung der Wohnungslosen durchgeführt. Dabei wurde bei 12% der Wohnungslosen ein Bezug zu Gefängnisaufenthalten festgestellt. Entweder ist die  Wohnung durch eine Inhaftierung verloren gegangen, oder jemand wurde durch die Wohnungslosigkeit straffällig und kam dadurch in Haft. 

Kaum Studien zu dem Thema

In der Regel befasst sich die Forschung zur Wohnungslosigkeit nicht mit dem Gefängnis. Gefangene gelten nicht als wohnungslos. Aber der Zusammenhang zwischen Haftaufenthalt und Wohnungslosigkeit wird nicht nur von der GISS mit ihrer Köln-Studie wahrgenommen. Es gibt bislang aber keine Studien, die analysieren, wie viele Inhaftierte bereits ohne Wohnung in Haft genommen werden, wie viele Gefangene im Verlauf ihres Haftaufenthalts ihre Wohnung verlieren und wie viele Frauen und Männer die Gefängnisse ohne Aussicht auf eine Wohnperspektive verlassen. Da kein Inhaftierter nach Verbüßung von üblicherweise zwei Dritteln seiner Strafe entlassen wird, wenn er keine Wohnung hat, ist auch nicht bekannt, wie viele eine vorzeitige Entlassung gar nicht erst beantragen und die Gesamtstrafe absitzen. 

Die heutigen Zellengefängnisse sind seit ihrer Entstehung vor 200 Jahren bis heute Armenhäuser geblieben. Seit der Strafrechtler Franz von Liszt vor über 100 Jahren erklärt hat, dass eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, ist dieser erkannte Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalisierung ein Thema ohne praktische Konsequenzen. 

Die extreme Überrepräsentation von Wohnungslosen und Obdachlosen in den Gefängnissen wurde in den Corona-Jahren aber noch nicht skandalisiert, weil andere Berichte die breite Öffentlichkeit mehr interessierten. Dabei handelte es sich um Artikel von und Interviews mit Neurologen, Psychologen, Psychiatern und Haptikforschern, wobei letztere sich mit der Bedeutung von Berührungen befassten. Durch all diese Wissenschaftler/innen fand eine bis dahin noch nie dagewesene Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die krankmachenden Folgen von Kontaktbeschränkungen statt. 

So stellte etwa Prof. Dr. Martin Grundwald von der Universität Leipzig fest: „Sicher ist, dass soziale Vereinsamung und fehlender zwischenmenschlicher Körperkontakt über einen längeren Zeitraum auf der psychischen und körperlichen Ebene zu relevanten Erkrankungen führen können.“ Und er ergänzt: „Insofern ist die körperliche Zurückhaltung aktuell gegenüber allem und jedem eine erhebliche Stresssituation, die nicht jeder gut verkraftet.“

Besonders deutlich wurde schließlich Prof. Dr. James Coan, Direktor des Virginia Affective Neuroscience Laboratory im Spiegel zitiert: „Wer einsam ist, wird öfter krank. Wunden heilen schlechter, das Immunsystem ist schwächer.“ Man sterbe früher, weil das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes und Depressionen steige, man werde eher dement: „Soziale Isolation tötet, das ist eine Tatsache.“ Nirgends wurde ein Bezug zum Gefängnis und der Unterbringung in Einzelzellen hergestellt. Das fanden wir skandalös. 

Als einer der Obdachlosen aus einem besetzten Haus in Köln zu einer Freiheitsstrafe wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurde, besuchten wir ihn in der JVA Rheinbach. Christiane Niesel, die noch nie in einem Knast war, schrieb ihre Eindrücke auf, und der Text wurde in der Kölner Straßenzeitung DRAUSSENSEITER veröffentlicht. So wurde uns bewusst, dass es über die Obdachlosen in Haft keine Texte gibt. 

Bei der Recherche zu diesem Thema fanden wir die Dissertation von Marion Müller: „Kriminalität, Kriminalisierung und Wohnungslosigkeit“, die sie 2006 vorgelegt hat. Sie kommt zu dem Schluss: „Die Heterogenität und Vielfältigkeit der Deutungs- und Handlungsweisen von wohnungslosen Personen im Umgang mit alltäglichen Extrembedingungen verweist ganz allgemein darauf, die Perspektive auf wohnungslose Menschen zurechtzurücken: Ein einseitiger, stigmatisierender Blickwinkel à la Wohnungslose trinken, betteln und klauen, ist nicht haltbar. Genauso wenig sollte man sich allerdings dazu verleiten lassen, ausschließlich einen mitleidigen Blickwinkel anzusetzen. Beide Sichtweisen versperren die Sicht auf wohnungslose Menschen als die individuellen Personen, die sie sind: weder Täter noch Opfer ihrer Situation, aber umrahmt von extremen Bedingungen, die ihren Handlungsentwürfen und -möglichkeiten entgegenstehen können.“ 

Knast und Straße als Drehtür

Der Rat der Stadt Köln hat am 2. Februar 2022 das Förderprogramm „Weiterentwicklung der Kölner Hilfen für Menschen im Kontext Obdachlosigkeit“ beschlossen.  Wir fühlten uns angesprochen und schrieben einen Antrag für unser Projekt „Ohne festen Wohnsitz in Haft“.

Von Oktober 2022 bis März 2023 leitete ich eine Erzählwerkstatt mit 12 Untersuchungsgefangenen  in der JVA Köln. In der JVA Siegburg konnte ich mit acht Gefangenen sprechen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßten. Das daraus entstandene Buch „Gefangen & Wohnungslos“ lässt auf über 400 Seiten Männer zu Wort kommen, die über ihre Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit vor der Haft, die Straffälligkeit, ihr Leben im Gefängnis und von ihren Wünschen und Hoffnungen für die Zeit nach der JVA erzählen. Christiane Niesel arbeitet mit Petra Metzger an einem weiteren Buch über wohnungslose Frauen mit Hafterfahrung, das demnächst auch im Kölner Weissmann Verlag erscheinen wird. 

Besonders erschütternd fand ich in den Gesprächen mit vier Langzeitobdachlosen, dass sie die Hälfte der vergangenen 20 – 30 Jahre immer wieder im Knast zubrachten. Ihre Lebensgeschichten stehen beispielhaft dafür, wie Polizei, Justiz und Strafvollzug soziale Konflikte zu Problemen der Überwachung und Kontrolle transformieren.

Seit 1845 kann man es besser wissen. Damals schrieben Friedrich Engels und Karl Marx in ihrem Buch „Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“ man müsse „nicht das Verbrechen am einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.“ 

Klaus Jünschke, Jahrgang 1947, ist in Köln im Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung aktiv. Er war wegen seiner Mitgliedschaft in der RAF (Rote Armee Fraktion) selbst 16 Jahre in Haft und hat anschließend zahlreiche Bücher und Artikel zur Situation von Gefangenen und zur Wohnungslosigkeit veröffentlicht.



MieterEcho 438 / Januar 2024

Veröffentlicht am

Faces of St. Pauli im Hamburger Wochenblatt

Hamburger Wochenblatt Titelseite Ankündigung Ausstellung Andreas Muhme Faces of St. Paili

Urgesteine aus St. Pauli – Der Fotograf Andreas Muhme porträtiert Menschen aus St. Pauli und stellt im popstreet.shop aus.

Kiez-Urgesteine sind die meisten. Fußball-Legenden, Burlesque -Tänzerinnen, Künstler, Rotlicht-Größen, der Nachbar von nebenan. Vom Kellerkind bis zur Grande Dame. Alle Geschlechter, generationsübergreifend, 28 tolle Gesichter. Doppelportraits – halb verdeckt auf dem einen und klar erkennbar auf dem anderen Foto. Als Zeitdokument in schwarz-weiß portraitiert von Andreas Muhme.

Zur Ausstellungseröffnung im popstreet.shop sind mehrere der Porträtierten erschienen. „Pizzabanden-Chef“ Hodzy, der sich auf dem Foto Gummibänder übers Gesicht gezogen hat: „Für mich ist St. Pauli ein Auffangbecken. Hier kann man sein, wie man möchte, ohne schräg angeguckt zu werden.“ Popart und Pinup-Künstlerin Maiike Dirkx (Sexy Aufstand Reeperbahn): „Was für eine große Ehre, zu den Faces of St. Pauli zu gehören!“ Schauspielerin Lotti Strehlow (91) – Grande Dame von St. Pauli: „Erst wollte ich nicht mitmachen. Auf schwarz-weiß Fotos sieht man auch immer sehr hart aus. Aber jetzt bin ich froh, dass ich dabei bin.“

Blick hinter die Maske

Begonnen hat Muhme die Serie ein Jahr vor der Pandemie. Nicht alle der ausgestellten Fotos sind in dem Bildband „Faces of St. Pauli“ enthalten, viele hat er erst nach dem Erscheinen gemacht. Wie das Foto von FC St. Pauli-Kapitän Jackson Irvine, der mit einem Fußballschuh sein Gesicht halb verdeckt. Muhmes Lieblingsfoto? „Das ist Torben P. aus der Tortuga Bar: „Für die Aufnahme zog er plötzlich seine Zähne raus und lächelte mich mit drei Stumpen an.“

Begeistert von der Ausstellung zeigt sich auch die ehemalige TV-Lady Victoria Voncampe: „Das sind ganz tolle Arbeiten.“ Muhme: „Wenn du nach St. Pauli kommst, siehst du nur Neonlicht und Glamour. St. Pauli hat eine Maske auf. Deshalb haben die Menschen auf den Fotos auch eine Maske auf. Wenn du dich dann mit ihnen auseinandersetzt, nehmen sie sie irgendwann ab. Dann sieht man die Lebenslinien. Das ehrliche St. Pauli.“

Text: Dagmar Gehm

Veröffentlicht am

„Iran ist immer ein Zufluchtsort für Juden gewesen“ – Mohsen Banaie im Interview mit NIW

Unser Autor Mohsen Banaie, iranischer Arzt und Sprachwissenschaftler hat mit Bart Schut und Ruben Gischler von NIW – Nieuw Israelitisch Weekblad ein Interview geführt. Banaie tritt gegen die heiligen Kühe seines Heimatlandes an. So auch jetzt, wo er dem jüdischen Staat in seinem Buch „Israel auf iranisch“ Tribut zollt. „In Israel haben sich mein deutsches und mein iranisches Ich getroffen“, sagt er.

Artikel online lesen

Veröffentlicht am

Einblicke in die Herzen der Menschen einer siebenbürgischen Stadt

Klausenburg/Cluj – eine literarische Nostalgie

Eine Rezension von Katharina Biegger

Fragend nimmt die Leserin das hübsch gemachte Buch mit dem rätselhaften, deutsch-rumänisch verschränkten Titel in die Hand: Was ist das? Welcher literarischen Gat­tung ist es zuzuordnen? Was will es von mir?

Das Buch ist ungewöhnlich. Kein (Heimat-)Roman, keine Lokalgeschichte, schon gar kein Reiseführer. Es ist ein Liebhaberprojekt, initiiert von dem Kölner Arzt Peter Rosenthal, der in Rumänien geboren wurde, in den 1970er-Jahren nach Deutschland kam und sich in Köln niedergelassen hat. Cluj ( dt. Klausenburg, ung. Kolozs­var) ist Partnerstadt Kölns, wo auch der Weissmann Ver­lag situiert ist, an dessen Gründung Peter Rosenthal be­teiligt war. Denn er ist nicht nur als Internist tätig. Gerne schreibt, publiziert, dichtet, übersetzt er. So hat er bei ei­ner Lesung in Klausenburg Mitglieder der rumänischen Schriftstellervereinigung kennengelernt, mit denen er dieses Buchprojekt entwickelt hat. Die Sammlung hand­le vom gemeinsamen europäischen Traum: ,,Es gibt ja kaum eine europäischere Stadt als Klausenburg“, meint Rosenthal, ,,die Römer waren schon da, die Germanen, die Sachsen und die Ungarn.“ Absicht des Buches sei es, ,,eine Europäisierung in umgekehrter Richtung“ zu be­treiben – Wissenstransfer nicht wie in früheren Epochen einsinnig von West nach Ost. Vielmehr wolle er „den Menschen im Westen einen Einblick in die Herzen der Menschen eines osteuropäischen Landes, in diesem Fall Rumänien, geben“ (S. 13).

Knapp zwanzig einzelne Beiträge sind in dem Band enthalten: kleine Dichtungen, Beobachtungen und Im­pressionen, die mehr oder weniger explizit zu der Stadt im Nordwesten Rumäniens in Beziehung stehen. Alle sind sie konsequent jeweils in Deutsch und Rumänisch abgedruckt ( einmal auch in drei Versionen, da das Un­garische nicht ganz vergessen werden soll); übersetzt hat – auf zuweilen recht eigenwillige, interessante Weise – der Initiator und Herausgeber Rosenthal, der auch einen Rahmen aus Einleitung und Nachwort beigegeben hat, worin er bekennt, er selbst sei mit Klausenburg eigent­lich gar nicht besonders vertraut. Die 15 zumeist rumäni­schen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Buch bei­getragen haben, sind oft aus den umliegenden Dörfern in das Zentrum der Region gekommen, wenn sie nicht schon geborene Klausenburger sind; viele haben Schu­le und Studium dort absolviert, sind danach vielleicht weitergezogen nach Bukarest oder nach Beer Sheva – oder sie sind für immer hängen geblieben, wie etwa Irina Petra: ,,Ich weiß nicht, wann ich mich in Cluj verliebt habe, aber eines ist sicher, ich gehöre zu Jenen, die es nie verlassen werden.“ Unter den jeweils höchstens fünf Sei­ten umfassenden Beiträgen findet sich Nachdenkliches, Persönliches, auch Kurioses, Ironisches, Verträumtes. In einem meiner Lieblingsstücke, karg und absurd wie die Zeiten vor 1989, geht es um das Rezept eines Fisch­gerichtes – da der Fisch jedoch fehlt, bleibt es bei der Beilage, also Kartoffeln mit Salz (Autor Victor Tarinä). Einer Reisereportage am nächsten kommt das Portrait des Stadtteils Märä?ti durch Markus Bauer. Besonders stimmungsvoll, ja philosophisch ist der Beitrag von Ion Murean: über die Lichter, die in Siebenbürgen zu Aller­seelen (,,Luminatia“) auf die Gräber der Toten getragen werden.

Ein paar leicht zu eliminierende kleine ( oft Tipp- oder Druck-) Fehler hätte ein professionelleres Lektorat ver­meiden können. Gewünscht hätte ich mir auch, dass das Entstehungsjahr der abgedruckten Stücke vermerkt wor­den wäre, wo es sich (wie in einigen Fällen kenntlich) nicht um Originalbeiträge für diese Publikation handelt. Weiter hätte mir gefallen, wenn die beigegebenen, atmo­sphärischen schwarz-weiß Fotos Klausenburger Örtlich­keiten zeigten, die in dem einen oder anderen Beitrag explizit genannt und beschrieben werden (z.B. die Do­nath-Straße oder eben Märäti). Aber das wäre der Gat­tung „Reiseführer“ vielleicht schon zu nahe gekommen.

Die Beschäftigung mit diesem sympathischen Buch hat jedenfalls meine Lust geweckt, Klausenburg mit sei­nem „merkwürdigen Lokalpatriotismus des Fernwehs“ einmal wieder zu besuchen!

Diese Rezension ist erschienen in „Deutsch-Rumänische Hefte – Caiete Germano-Romane“, Jahrgang XXVI • Heft 1 • Sommer 2023

Veröffentlicht am

Rezension der Lesung mit Mohsen Banaie und seinem Buch „Israel auf iranisch“ (Moderation Christoph Danne)

Kölnische Rundschau Kultur Artikel von Rolf-Rüdiger Hamacher über Mohsen Banaies Buch Israel auf iranisch

Kölnische Rundschau / Kultur / 30.03.2023 / schreibt Rolf Rüdiger Hamacher über das Buch „Israel auf iranisch“ von Mohsen Banaie: „In „Israel auf iranisch“ erzählt der Kölner Autor Mohsen Banaie von einer ungewöhnlichen Reise“

Ein Buch, wie es aktueller kaum sein kann: Im Iran wüten die Revolutionsgarden gegen die eigene Bevölkerung, in Israel versucht gerade eine rechtsextreme Regierung die Demokratie auszuhöhlen. Beide Länder sind in inniger Feindschaft verbunden. Dennoch möchte Mohsen Banaie eine Brücke bauen zwischen den beiden Ländern, die unterschiedlicher nicht sein können – und sich doch so ähnlich sind.

„Eine Arbeit zur Völkerverständigung“, nennt der 1965 in Teheran geborene Autor sein Buch „Israel auf iranisch“, das er jetzt mit Christoph Danne im Literaturhaus vorstellte. An dessen Beginn steht eine lange „Reise“, die mit der islamischen Revolution 1979 beginnt, während der er sich einer oppositionellen Gruppierung anschloss. 1985 flüchtete er über die Türkei und die DDR in die Bundesrepublik – immer den Ratschlag seines Vaters im Kopf: „Versuche von den Deutschen zu lernen, für was sie in aller Welt berühmt sind: ihre Pünktlichkeit und Ordentlichkeit!“

Banaie studierte in Mainz Medizin, schrieb sich nebenbei im Fach „Vergleichende Sprachwissenschaften“ ein und hatte in der Begegnung mit dem jüdischen Professor Josef Elfenbein sein Schlüsselerlebnis: „Ich fing langsam an zu begreifen, dass nicht die Menschen selbst, sondern die Worte den Lauf der Geschichte bestimmten. Das Wort war die Macht. Wie es schon in der christlichen Bibel steht: Am Anfang war das Wort!“

Unter dem Pseudonym Mazdak Bamdadan veröffentlichte Mohsen Banaie seit Anfang der 2000-Jahre mehr als 250 Artikel in persischer Sprache zu sozialen, politischen, religionskritischen und historischen Themen:„Besonders viel Aufsehen erregte 2010 meine harsche Kritik an der israelischen Palästinapolitik, in der ich das Vorgehen des Staates mit Apartheid verglichen hatte.“

Schon damals reifte Banaies Entschluss, mit seiner Frau Sahar nach Israel zu reisen, „den wir dann aber erst 2018 umsetzten, mit der bangen Frage im Hinterkopf, wie wir als deutsche Staatsbürger mit dem Pass-Eintrag Geburtsort Teheran empfangen würden“. Und tatsächlich waren die ersten Eindrücke ernüchternd. „Als Deutsche wurde uns vor die Füße gespuckt, als Iraner wurden wir willkommen geheißen.“

„Habt ihr denn Angst gehabt, euch in Jerusalem zu bewegen?“ will Danne wissen. „Vielleicht waren die 14 Tage ja auch zu kurz, und wir haben manche gefährliche Situation nicht erkannt“, erinnert sich Banaie, um dann doch eine skurrile Situation zu erzählen, in der er seit seiner Flucht aus dem Iran zum ersten Mal wieder Todesangst gehabt habe: „Wir bleiben mit unserem Leihwagen in einer Prozession ultra-orthodoxer Juden stecken, und die Situation schaukelte sich hoch, bis sie erkannten, dass wir Gois waren, die, im Gegensatz zu ihnen, am Sabbat Autofahren dürfen.“

Zum Schluss der interessanten Einsichten in das Leben eines Wanderers zwischen mehreren Kulturen will Danne noch wissen, ob Banaie denn manchmal so etwas wie Heimweh empfinde: „Fühlen sie sich in ihrer Wahlheimat Deutschland wohl?“Dessen Antwort:„Offensichtlich, meine Frau nennt mich immer ,Friedrich Wilhelm’ – deutscher geht’s wohl nicht!“

Veröffentlicht am

Cluj, die europäischste Stadt

Hans-Willi Hermanns schreibt in der Kölner Rundschau über das Buch „Cluj – Der Traum ist unser geheimes Zuhause / Klausenburg – Visul e casa noastră secretă“:


Cluj, die europäischste Stadt

Peter Rosenthal gibt Gedichtband über Kölns Partnerstadt in Rumänien heraus

Der Leser begegnet einem Engel, der Lippenstifte isst, jungen Leuten, die das das Sowjetregime mithilfe der Beatles und der Stones stürzen wollen. Er schaut ins Cafe Croco, wo die Bohèmiens ihren Kaffee trinken, er liest die Legende vom Hirten, der einst die Stadt vor der türkischen Besatzung rettete, versucht nachzuvollziehen, wie eine Pizza mit Gurken schmeckt oder wie man eine Skulptur aus Luft baut.
Und dann ist da noch Irina Petraș’ vergleichsweise sachliche Schilderung des Kulturlebens von Cluj, mit seinen Konzerten in der Philharmonie, den Theater- und Opernaufführungen, den Verlagen und Vorlesungen. Cluj? Nie gehört? Kein Wunder, der Name ist in Rumänien gebräuchlich, bei uns ist die Stadt nicht zuletzt dank des immer noch bemerkbaren Anteils von Siebenbürger Sachsen an der Gesamtbevölkerung eher als Klausenburg bekannt.

Unbekannte Stadt

Den meisten werden beide Namen nicht viel sagen, und das, obwohl Klausenburg eine der Partnerstädte Kölns ist. „Für die meisten hier ist Peking natürlich wesentlich interessanter“, kommentiert Peter Rosenthal lachend die Wissenslücken seiner Mitkölner.
Rosenthal ist Mitbegründer des Kölner Weissmann Verlags und hat dort unlängst als Herausgeber einen Band veröffentlicht, der sogar beide Namen auf dem Einband trägt: „Cluj – Der Traum ist unser geheimes Zuhause. Klausenburg – Visul e casa noastră secretă“. Versammelt sind darin Kurztexte oder Gedichte von 18 meist rumänischen Autoren zu den unterschiedlichsten Themen rund um die Stadt Klausenburg, auch stilistisch ist die Bandbreite enorm.
Alle Texte sind in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung abgedruckt, die Peter Rosenthal selbst besorgt hat. Denn er verbrachte seine Kindheit in Rumänien und kam mit 13 Jahren nach Köln, wo er bis heute mit seiner Familie lebt und als Internist arbeitet.

„Wer Klausenburg malerisch findet, findet auch Köln malerisch“. „Und wer Köln malerisch findet, kann nicht malen.“

Peter Rosenthal

Mit Klausenburg verbindet den Herausgeber so viel allerdings nicht, er ist in Arad nahe der ungarischen Grenze aufgewachsen. Auch hat er Klausenburg nicht gewählt, weil es eine besonders malerische Stadt wäre: „Wer Klausenburg malerisch findet, findet auch Köln malerisch“, sagt er verschmitzt. „Und wer Köln malerisch findet, kann nicht malen.“ Es war eher der Zufall, der zu dem Buchprojekt führte: „Meine erste Buchveröffentlichung,„Entlang der Venloer Straße“, ist auch ins Rumänische übersetzt worden, deshalb war ich zu einer Lesung nach Klausenburg eingeladen.“ Als Mitglied des PEN-Zentrums für deutschsprachige Autoren im Ausland lernte Rosenthal dort durch die Vermittlung von Irina Petras Kollegen der rumänischen Schriftstellervereinigung Klausenburg kennen, die einen gemeinsamen Band über ihre Stadt vor allem als Unterstützung der Idee eines geeinten Europas befürworteten. „Es gibt ja kaum eine europäischere Stadt als Klausenburg“, sagt Rosenthal,„die Römer waren schon da, die Germanen, die Sachsen und die Ungarn.“

Klausenburg sei kein Einzelfall, dennoch habe sich das westliche Europa bislang kaum die Mühe gemacht, in einen ernsthaften politischen oder kulturellen Dialog mit den osteuropäischen EU-Mitgliedsländern einzutreten. Daran ändere auch der Krieg in der Ukraine nichts, die Probleme Osteuropas würden trotz der großen Hilfsbereitschaft wohl vor allem als Bedrohung für den Wohlstand in den westlichen Ländern gesehen. „Dabei gibt es in Osteuropa so viel Potenzial“, sagt Rosenthal und schwärmt von der konsequenten Bekämpfung der Korruption in Rumänien, von der lebendigen Kulturszene und den hervorragenden Universitäten. Dennoch halte sich aufgrund der Armutsmigranten und Saisonarbeiter hierzulande das Bild eines zurückgebliebenen Landes. „Dass es dort noch kein nennenswertes Unternehmertum gibt, hat mit dem Totalitarismus der Sowjetzeit zu tun. Der hat vieles zerstört. Totalitarismus muss man erlebt haben, das ist ekelhaft, wie Ischias.“ Aber man könne sich doch selbst ein Bild machen: „Die Flugverbindungen nach Klausenburg sind sehr gut, dort kann man ein cooles Wochenende verbringen.“

Peter Rosenthal: Cluj – Der Traum ist unser geheimes Zuhause. Klausenburg – Visul e casa noastră secretă. Weissmann Verlag, 144 Seiten, 15
Euro.

Lesung in Köln: Donnerstag, 25.8., 20 Uhr, in den Balloni Hallen, Ehrenfeldgürtel 88-94. Eintritt frei.

Veröffentlicht am

Von Eve Champagne bis Günter Zint – markante Kiezgesichter (Hamburger Abendblatt)

Foto: Andreas Muhme

https://www.abendblatt.de/kultur-live/article236145479/faces-of-st-pauli-bildband-eve-champagne-bis-guenter-zint-jones-kalle-schwensen-markante-kiez-gesichter.html

Das Hamburger Abendblatt schreibt über das neue Fotobuch von Andreas Muhme „Faces of St. Pauli“:

Andreas Muhmes neuer Fotobildband „Faces of St. Pauli“ porträtiert 120 Persönlichkeiten gleich doppelt.

Hamburg.  St. Pauli hat viele Gesichter. Die Rede ist hier weniger vom einst als „magisch“ besungenen FC – obwohl dieser in Andreas Muhmes Buch auch Erwähnung findet. In seinem Werk „Faces of St. Pauli“ geht es primär um den Stadtteil und die Menschen, die ihn prägen und von ihm geprägt wurden. 2019 hatte Muhme begonnen, Frauen und Männer, Prominente und weniger Prominente seiner „Herzensheimat“ zu porträtieren; nach zwei Ausstellungen sieht er seinen Fotobildband als nächsten „folgerichtigen Schritt“.

In seinem Buch überwindet der Hamburger Fotograf auf 252 Seiten bewusst Milieugrenzen. Allen der fürs Buch berücksichtigten 120 Persönlichkeiten gibt er jeweils zwei Seiten Raum für ein Doppelporträt. Die Fotos sind schwarz-weiß und mit Ringblitz aufgenommen. Sie kennen keine Weichzeichner und keine Makulatur, weil auch der Stadtteil ohne auskomme, meint Muhme. Der Fotograf zeigt die Ausgewählten verdeckt und unverdeckt, liefert jeweils eine Erklärung und hat den Fotos persönliche Statements beigefügt, die für sich sprechen.

„Faces of St. Pauli“: Bildband mit jungen und alten Kiez-Größen

„Lieber queer leben auf St. Pauli, als quer denken unter Idioten“, sagt etwa Sänger, Autor, und Theaterregisseur Schorsch Kamerun, der sich mit Stofftier als Zweitbild hat ablichten lassen. Auch ein visuelles Statement wider Kommerz, Massentourismus und Einheitsgastronomie. Dennoch weiß auch Burlesque-Rockstar Eve Champagne, die sich im zweiten Bild hinter einer venezianischen Maske verbirgt: „St. Pauli ist Großstadt-Serengeti für viele Paradiesvögel.“ Seine Pilotenbrille gegen die Maske tauscht sogar die frühere Kiez-Größe „Kalle“ Schwensen, und wenn der Club-Betreiber konstatiert „St. Pauli ist Hamburgs Herzschlag“ lässt sich kaum widersprechen.

Kiez-Dauerpräsente wie Olivia Jones und Corny Littmann fehlen in „Faces of St. Pauli“ ebenso wenig, jedoch hat Muhme auch junge und alteingesessene Kneipenwirte, Sozialarbeiter und Gestrandete, Alt- und Neo-Punks im Auge behalten. Sie stehen für Diversität, Stolz und Sturheit, aber auch die Verwundbarkeit St. Paulis.

Andreas Muhme möchte zeigen, wie hoch der Preis wäre, wenn Hamburg den Kiez, so wie er ist, verlöre. Der im Buch ebenfalls doppelt verewigte Günter Zint, Gründer des St. Pauli Museums und fotografisches Kiez-Gedächtnis, macht ihm mit seinem Statement ein großes Kompliment: „Lieber von Muhme fotografiert, als vom Leben gezeichnet.“

Das Buch kann in jeder Buchhandlung oder sofort hier im Onlineshop erworben werden.

Veröffentlicht am

Draussenseiter – Das Kölner Straßenmagazin

Der Fotoband des Kölner Fotografen Stefan Flach ist entstanden im Sommer 2020 auf Mallorca, am berühmten Strandabschnitt an der Playa de Palma – besser bekannt als „Ballermann“. Er reiste dorthin mit der Idee, den verlassenen Ballermann in der Pandemie einzufangen. Ähnliche Projekte mit geschlossenen Freizeitparks hatten ihn auf die Idee gebracht. Nicht ganz klar war, ob er überhaupt dorthin reisen durfte, doch dann hat es spontan geklappt. Denkt man bei Ballermann als erstes an die kontroverse deutsche Feierkultur, zeigen diese Fotos genau das Gegenteil: Eine leere Promenade und nüchterne Kneipenfassaden, soo wie es sich der ein oder andere Einheimische wünschen würde, ohne betrunkene Touristen*innen und deren Hinterlassenschaften (der Putzeimer mit Sangria ist mittlerweile nicht mehr erlaubt).

Stefan Flach ist bei Recherchen für sein Buch auf das Paar Annette und André Engelhardt gestoßen. Die Engelhardts haben sich den Begriff „Ballermann“ rechtzeitig schützen lassen und sind damit reich geworden. Jeder Gastwirt, der eine Ballermann-Party veranstalten möchte, muss die beiden um Erlaubnis fragen und Lizenzen bezahlen. Sie kommen im Buch genauso ehrlich zu Wort wie mallorquinische Angestellte im Tourismus, die eine negative Meinung zum Sauftourismus haben. André Engelhardt sagt im Buch: „Der Ballermann ist kein Ort. Er ist vor allem eine Marke und ein Lebensgefühl für eine Gemeinschaft die gerne zusammen feiert.“ Man kann dieses Gefühl auch in einer Kneipe in Köln erleben, wenn man will.

So erfährt man auch, wie der FC Merowinger 1972 erstmals als Thekenmannschaft an die Playa de Palma reiste. Weil das damals schon billiger war als ein Urlaub in Westdeutschland. Im Handgepäck die Kölsch-Fässer und Töpfe voller Gulasch, weil se der spanischen Küche misstrauten. Und da ein Kölner auch in fremden Ländern stets zeigen muss, dass er ein Kölner ist, kamen auch die Karnevalskostüme am Strand zum Einsatz.

Die 37 farbigen, anschaulich schlichten Fotos zeigen die Touristenhochburg ohne Leuchtreklame und Partys um 5 Uhr 30. Nur leer Straßen, verrammelte Eingänge und verwaiste Plätze. Absperrgitter ohne Schlangen. Der Bierkönig unscheinbar wie eine Lagerhalle (auf dem Cover). Tristesse weit und breit, wo doch sonst gerne gefeiert wird.

Keine Cordula Grün und keine zehn nackten Frisösen weit und breit. Nicht mal eine.

Auch der Kölner Fotograf Chargesheimer zeigte schon in seinem Buch „Köln5Uhr30“ das menschenleere Köln und das nackte Bild einer Stadt, die ohne deren Menschen schön hässlich und einsam wirkt. Diese Parallele ist natürlich beabsichtigt.

Flach schreibt in seinem Buch: „Ohne die vielen Menschen wirkt der Ort grotesk, auf eine brutale Art entzaubert, enttarnt als billige Fassade.“ Derart stillgelegt, strahlt der Ballermann tatsächlich nur Schäbigkeit und Tristesse aus. Nichts, was sich für die Bewohner*innen von S’Arenal zurückerobern lohnte. Auch kein Ort, der besonders reizvoll ist, wenn man ihn für sich ganz alleine hat. Eine Geisterstadt, ganz ohne Geheimnisse.

Ein schönes Fotobuch, ansprechend gestaltet, Fotos einheitlich farbig, mit vielen interessanten Texten, Gedanken und Infos. Für jeden*jede der*die schon mal dort war oder mal wieder hin möchte, ein Muss – aber ihr solltet vielleicht besser erst nach der Pandemie wieder dort hinfliegen. Die Autorin war selber schon mal am Ballermann und hat es dort auch zu normalen Zeiten sehr irritierend gefunden. Gut, dass diese schöne Insel noch sehr viel mehr zu bieten hat!

Anemone Träger

Veröffentlicht am

Von der Ästhetik der Leere

Mallorca Zeitung – Nr. 1.093 – 15. April 2021

Ein deutscher Urlauber besuchte ausgerechnet im Juli 2020, mitten in der Pandemie, zum ersten Mal den Ballermann. Seine Eindrücke hat der Grafik Designer nun in einem Bildband dokumentiert, der Zeitzeugnis sein soll.

Was er den Leuten mit den Bildern vom schlafenden Ballermann zeigen wolle – die seien doch total trist, das wolle bestimmt niemand sehen, musste sich Stefan Flach immer wieder anhören. Doch davon ließ er sich nicht abhalten. Der 55-jährige Grafikdesigner hatte aus­gerechnet im Sommer 2020, mitten in der ­Pandemie, zum ersten Mal die Partymeile besucht. Zu sehen bekam er freilich keine Party: Statt Menschen, die auf Tischen tanzend Schlager mitgrölen, Sangria in sich ­hineinfließen lassen oder mit Sonnenbrand ihren Rausch am Strand ausschlafen, fand er menschenleere Strände, verrammelte Fenster und verriegelte Gitter vor Lokalen vor. Die ­Partymeile war komplett trockengelegt.

Seinen frühmorgendlichen Streifzug an der Playa dokumentierte der Urlauber mit reichlich Fotos. 37 davon hat er nun in seinem Bildband „Ballermann 5 Uhr 30″ veröffentlicht. „Ich hatte bis dahin nur den Mythos im Kopf. Dass ich schon einen Tag vor meiner ­Familie auf der Insel war, wollte ich ausnutzen, um den Ballermann so kennenzulernen, wie es ihn womöglich erst einmal nicht mehr ­geben wird“, schildert Flach am Telefon. Die ­Situation sei unwirklich gewesen. „Dort, wo ­eigentlich das Leben tobt, war auf einmal nichts mehr. Stille. Kein Mensch auf der ­Straße. Alles hatte zu“, so der Deutsche.

In der Leere der aufgenommenen Lokale sah er aller Tristesse zum Trotz auch eine gewisse Ästhetik: „Es sind Räume, die sich um Menschen drehen, nur für sie gebaut wurden. Und genau die sind plötzlich nicht mehr da. Das ist ein verwirrendes Bild, eines, das man nicht sofort versteht. Wohl aber denkt man ,Hier ist etwas passiert'“, so Flach.
Dass die Fotos vor allem regelmäßige Feier-Touristen wehmütig stimmen dürften, dessen ist sich der Grafikdesigner bewusst. „Ich rechne auch nicht damit, dass demnächst der Aufkleber ,Spiegel-Bestseller‘ das Cover zieren wird. Es ist klar, dass es kein Buch ist, das die breite Masse interessiert“, meint Flach. Vielmehr sei sein Projekt ein Zeitzeugnis, ein ­Geschenk für die Daheimgebliebenen, aber auch ein Angebot, mit dem Mythos aufzuräumen und die Perspektive zu wechseln. Das Buch solle zum Nachdenken anregen.

Dazu trägt auch der Text bei: Neben den Bildern stehen Zeilen aus Ballermann-Schlagern, Zitate aus Zeitungsartikeln, aber auch Kommentare von Menschen, die über die Arbeit an der Partymeile klagen, sowie Google-Rezensionen über die abgebildeten Lokale.

Simone Werner

Veröffentlicht am

Dunkle Prophezeiung der Süddeutschen Zeitung

Stefan Fischer titelt in seinem Bericht über unser Buch „Ballermann5Uhr30“ eine unheimliche Prophezeiung: „Der Zapfhahn bleibt zu“

31. März 2021, Reisebuch zu Mallorca

Der Zapfhahn bleibt zu

„Hier ist der Himmel auf Erden, das letzte Paradies“, singt Jürgen Drews in seinem Party-Heuler „König von Mallorca“. In dem Mitgröl-Schlager huldigt er dem Ballermann, die Straßen dort mit all ihren Diskotheken, Kneipen, Biergärten, Wurstbuden und Tabledancebars nennt er schick und ein Zuhause. Als Motto gibt Drews aus: „Party feiern bis zum Morgen.“
Ein paar Straßenzüge in S’Arenal rund um die sogenannte Bier- und die Schinkenstraße, mit einem Streifen Strand davor, sind der Inbegriff der hemmungslosen Feierwut deutscher Urlauber. Bis vor einem Jahr galt: Der Ballermann ruht nie. Wenn die Party vorüber ist, sind die Hinterlassenschaften der Nacht unübersehbar: Betrunkene torkeln durch die morgendlichen Straßen oder schlafen am Strand ihre Räusche aus, inmitten des Mülls, den sie selbst produziert haben. Irgendwann wird dann aufgeräumt, und es geht von vorne los.
Diese Art des Tourismus hat viele Gegner auf der Insel. Der Fotograf Stefan Flach zitiert in seinem Band „Ballermann 5 Uhr 30“ deshalb nicht nur Jürgen Drews und andere Party-Profiteure, sondern auch Gegenstimmen wie die des balearischen Tourismusministers Iago Negueruela: „Wir wollen diese asozialen Touristen hier nicht haben. Sie sollen nicht kommen.“ Biel Barceló von der Bürgerinitiative Ciutat de s’Arenal pflichtet dem Politiker bei: Die Exzesse des Sauftourismus seien längst inakzeptabel, und man verstehe sich auch nicht als Freizeitpark für ausländische Touristen.

Durch die Pandemie hat die Party nun tatsächlich ein zumindest vorübergehendes Ende gefunden. Stefan Flach ist deshalb im vergangenen Juli nach Mallorca gereist, mitten in der eigentlichen Hauptsaison, und hat am Ballermann fotografiert, was es dort gemäß der Definition der vielen Ballermann-Fans gar nicht geben darf: Ruhe, Leere, Stillstand.

Flach hat für seine Aufnahmen die frühen Morgenstunden gewählt, wenn die Sonne zwar bereits aufgegangen ist, sich aber noch keine Passanten durch die Straßen bewegen. Er wollte die absolute Leere, das maximale Gegenteil der eigentlichen Bestimmung dieses Ortes, der vor allem ein Zustand ist, wie Flach in seinem Vorwort schreibt. Nicht einmal einen streunenden Hund sieht man auf den Bildern. Lediglich am Strand staksen ein paar Tauben und Möwen durch den Sand.

Stattdessen hat Stefan Flach verrammelte Türen, hochgestellte Stühle und heruntergelassene Rollgitter aufgenommen. Vor der Terrasse des Bierkönig-Bierhauses ist ein Maschendrahtzaun gespannt, der Bierkönig selbst sieht aus wie eine Lagerhalle. Keine Neonröhre blinkt, um für Sangria, Döner oder Oben-ohne-Bedienungen zu werben.
„Ohne die vielen Menschen wirkt der Ort grotesk, auf eine brutale Art entzaubert, enttarnt als billige Fassade“, schreibt Flach. Derart stillgelegt, strahlt der Ballermann tatsächlich nur Schäbigkeit und Tristesse aus. Nichts, was sich für die Bewohner von S’Arenal zurückzuerobern lohnte. Auch kein Ort, der besonders reizvoll wird, wenn man ihn für sich allein hat. Eine Geisterstadt, ganz ohne Geheimnisse.

Stefan Flach: Ballermann 5 Uhr 30. Weissmann Verlag, Köln 2020. 104 Seiten, 17,95 Euro.